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Das Ende des Internet

Stephan Selle im Interview zum Ende des Internet und der Inkubationszeit neuer Medien

Heinold: Auf dem ZukunftsFrühstück Verlage und Medien haben Sie einige Ausblicke in die Zukunft gegeben. Eine Ihrer Thesen lautete: Das Internet ist erst 2020 ausentwickelt. Wie kommen Sie auf diese Festlegung?

Selle: Es gibt Theoretiker, die sich mit der Entwicklung neuer Medien in der Geschichte beschäftigt haben. Beginn des betrachteten Zeitraums ist immer Gutenberg und der Druck mit beweglichen Lettern – die vorangegangene Revolution, die Erfindung der Buchstabenschrift, liegt irgendwo um -800 und damit zu weit weg, um für solche Untersuchungen nutzbar zu sein. Interessanterweise lässt sich bei allen neuen Medien eine Gemeinsamkeit feststellen: es gibt zwischen Erfindung und standardisierter Nutzung einen Zeitraum von etwa 30 Jahren (eine Generation). Beim Buchdruck werden in diesem Zeitraum, von 17 Druckereien um 1470 bis 252 am 31. Dezember 1500 so genannte Inkunabeln („die Wiege des Buches“) gedruckt. Erst danach weiß jeder Autor, Drucker und Verleger wie ein Buch aussieht: es hat einen Einband, einen Titel, eine – leider optionale – Autorennennung, ein Inhaltsverzeichnis, eine Paginierung Kapitel, Anmerkungen und so weiter. Bei Film, Fotografie, Fernsehen und all den anderen schönen neuen Medien sieht es genau so aus: 30 Jahre von der Erfindung bis zur Standardisierung der Arbeitsmittel oder bis zur Industrialisierung der Produktion. Aus der Fotografie, 1830 von Niépce erfunden, 1839 von Daguerre technisch richtig gebaut, wurde um 1870 ein etabliertes Verfahren, 1888 fing Kodak an. Auf das Internet übertragen: 1990 ging es los mit dem WWW, also ist am 31. Dezember 2020 das Ende der Web-Inkunabeln erreicht.

Heinold: Wenn Sie Recht hätten, dann befänden wir uns gerade noch in einer wilden Übergangszeit. was bedeutet eine solche Phase für Verlage und Medien?

Selle: Eine Chance und eine Gefahr: beim Buchdruck waren zu Beginn die Drucker die Chefs im Ring. Wegen einer Kiste voller Bleibuchstaben wurde so mancher erschlagen. Erst später, nach der Standardisierung, stellte sich heraus, dass die Verleger eigentlich die Gewinner sind – die gab es aber zu Zeiten von Handschriften noch gar nicht. Übersetzt: vielleicht ist der Verleger jetzt der Drucker, und die Organisation, die vom Web richtig profitiert, ist noch gar nicht da. Vielleicht heißt es aber auch, dass der achtsame Verleger sein Unternehmen in den nächsten zehn Jahren so umbaut, dass er ein völlig neues Geschäft betreibt: mit Sicherheit die interessantere Variante.

Heinold: Bis 2020, so prognostizierten Sie auf dem ZukunftsFrühstück, werde der Browser als Internetzugang für alle verschwinden. Die Macht übernehmen die Apps - und damit die App-Anbieter wie z.B. Verlage. Wie kommen Sie darauf?

Selle: Die Geschichte der Medien ist immer auch die Geschichte der Aneignungen der Medien. Kapitalismus ist so gebaut, dass bei einer Revolution wie Buchdruck, Film oder Internet haufenweise schlaue Leute jeden Aspekt auf Profitabilität hin untersuchen. Ist ein solcher Punkt gefunden, ruht dieses System nicht, bevor nicht der maximale Profit unter maximalem Schutz des eigenen Geschäfts erwirtschaftet werden kann. Und das bedeutete in der Vergangenheit immer den Ausschluss der Laien, der Amateure, der Privatleute: entweder rüstet man die Technik auf (Druckmaschinen, Filmprojektoren) oder man benutzt den Staat (Rundfunk, Fernsehen) für den Ausschluss. Warum sollte das beim Internet anders sein? Der schreibende Zugriff der Laien und Privatmenschen auf das Internet ist an den Browser geknüpft, an zugänglich Server und an offen zugängliche Leitungen. Vermutlich wird nichts davon verboten oder beseitigt. Alle Interessanten und unterhaltsamen Angebote werden einfach gegen Geld über gesicherte Kanäle angeboten: Apps. Dem Browser geht es dann wie dem Programmkino: wer schaut schon Alien im Kino, wenn er einmal pro Woche auf irgendeinem Privatsender Astronauten isst. Das Publikum geht mit den thrills, und wenn die guten Angebote Apps sind, ist der Browser schell so Randständig wie derzeit die Offenen Kanäle: da kann jeder Fernsehn machen, wollen tun es aber nur Spinner und Idealisten. Also: der Browser verschwindet im trüben Ozean des Desinteresses.

Heinold: Das Internet wird, ganz im Gegensatz zu Ihrer These, als großes Demokratisierungsinstrument wahrgenommen bzw. verstanden. Heute kann jeder publizieren - das widerspricht doch Ihrer These diametral?

Selle: Bert Brecht hat mal gedacht, das Radio wäre ein Demokratisierungsmedium, weil jeder Empfänger ja zum Sender werden könnte: Pustekuchen! In der UdSSR war Literatur mal ein Demokratisierungsmedium, als Samisdat abgetippt und rumgereicht. Der Kapitalismus ist da entspannt, er hat eine erfolgreiche Geschichte in der Transformation von Demokratisierungsmedien in Unterhaltungsmedien. Im Augenblick sind Blogger nicht unbedingt demokratischer, aber direkter und schneller, dass gibt dem Web-Ganzen so etwas graswurzeliges: was die Großen können, kann ich auch. Das liegt aber ja nur daran, dass die Verlage (und Fernsehnachrichten-Redaktionen) noch nicht verstanden haben, wie die neue Öffentlichkeit funktioniert. Die Bildzeitung ist auf dem Weg, die Heimstatt der Proll-Blogger zu werden. In ein paar Jahren ist die Szene absorbiert.

Heinold: Wenn die Apps an Macht gewinnen - erhalten dann die Verlage auch wieder, wie in den seligen Printzeiten, die Macht über ihre Medien zurück?

Selle: Nicht so wie jetzt. Der Vertrieb ändert sich ja als erstes: sehen Sie sich die Musik-Produzenten an. Zuerst einmal gehen ist eine Jugoslawisierung der Entitäten zu beobachten: die Zeitung oder Zeitschrift zerlegt sich in kleine, verkaufsfähige Einheiten, so wie aus der LP von Anno Toback das Stücke-Mutterschiff von heute geworden ist. Ein Verlag verkauft Rubriken oder einzelne Artikel („Also Wirtschaft hat mich noch nie interessiert!“). Und bezahlt Autoren und Vertrieb nach Erfolg: ein Euro pro Lektüre, fünfzig Cent für einen Verkauf. Auf solche Modelle läuft das App-Prinzip raus. Und Anzeigen: Apple zeigt es ja bereits: Der Anbieter der App stellt den Platz zur Verfügung, der Distributor – Apple – zeigt die Anzeigen. Nach welchen Kriterien? Schulterzuck! Und wie wird bezahlt? Wie früher: je mehr „Auflage“, um so mehr Anteile am Anzeigengeld.

Heinold: Wenn das so käme, dann würde ja auch für Verlage jeder Innovationsdruck entfallen. Sie brauchen bloß durchzuhalten und die richtigen Apps bereit zu halten…

Selle: Wer Leser in Apps haben will, muss gewaltig innovieren! Das Angebot von „Brand Eins“ auf dem iPad läuft mit gehässigen Kommentaren: „Sieht genau so aus wie gedruckt!“ Das ist der plötzliche Kindstod eines digitalen Magazins. Die Benutzer wollen medial angemessene Medien sehen: PDFs sind Gähner! Animationen, mehr Material als im Print, Links zu älteren Artikeln, Diagramme und Gemälde – das wollen die verwöhnten App-Blagen sehen.

Heinold: Was empfehlen Sie Verlagen in der heutigen Situation - worauf sollen sie sich einstellen, was sollen sie Unternehmen, um zukunftssicher zu werden?

Selle: Web 2.0 taugte nicht zum Geschäftsmodell für Verlage (user generated content ist eher so etwas wie der natürliche Feind eines Verlages), Tablets sehr wohl: Der Heim-Rechner verabschiedet sich vom Modell des Bürocomputers, emanzipiert sich, könnte man auch sagen. Aus dem Laptop im Kinderzimmer wird ein Medium im wahrsten Sinne des Worte: ein Nicht-Mehr-Schreib-Nur-Noch-Lese-Gerät und damit auf einer Stufe mit Radio, Fernsehen, Kino, Theater, Büchern … und da ist sie schon, die Chance für Verlage. Und aus dem Kinderzimmer wird eine App. Die Utopie der Fiktion ist das Holodeck, also tut ein Verlag alles, um dahin zu kommen. Die Utopie der Sachinformation ist die richtige Portion zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Daten müssen häppchenweise im richtigen Kontext angeboten werden: wie ich den Barracuda fange sagt mir die iAngel, wie ich ihn brate sagt mir mein iHerd.

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