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Analoge Inseln im digitalen Strom

Stephan Selle in einem Interview mit Ehrhardt F. Heinold von der Unternehmensberatung Heinold, Spiller & Partner zum Thema Digitale Workflows in Verlagen

Heinold: In Ihrem Vortrag auf dem CrossMediaForum haben Sie die These aufgestellt, dass Verlage ihre Abläufe in „Geschäftsprozesse“ verwandeln sollen. Was verstehen Sie unter diesem Begriff?

Selle: richtiger wäre: zurückverwandeln. Die digitale Revolution in den Büros hat auch seltsame Effekte gebracht: Mail, FTP-Server, Drop-Box und ähnliche Mittel sorgen dafür, dass Dateien fast spurlos den Besitzer wechseln. Solange ich Hundefutter produziere kann mir das vergleichsweise gleichgültig sein, denn die Dosen wandern nicht über einen der genannten Kanäle. Produziere ich aber digitale Inhalte, sieht das Bild schon anders aus: Mein zentrales Produkt wird zwischen Beteiligten – nur denen, so muss ich hoffen – hin und her gereicht, ohne dass eine andere Anwendung ausser dem beteiligten Mail-Programm oder eine andere Person außer dem mailenden Mitarbeiter davon weiß. Intern wird überdies bei jedem Versand noch eine Kopie erzeugt … Bleiben wir beim Thema. Geschäftsprozess heißt für mich in erster Linie: In einem nicht-privaten Umfeld werden Produkte nicht einfach von Hand zu Hand weiter gegeben, zur Lieferungen gehören Aufträge oder Bestellungen auf der einen und Lieferscheine auf der anderen Seite. Wenn Manuskripte und Grafiken wie ein Geldschein im Briefkuvert zugeschickt werden, wenn Dateien das Haus für Bearbeitungen ohne „Papiere“ verlassen, fehlt für mich ein Prozess. Vor zwanzig Jahren war die Ordnung was das angeht größer ...

Heinold: Welchen Wandel in der Kultur und der Arbeitsweise bringt das Arbeiten mit Geschäftsprozessen?

Selle: Das ist ja im Prinzip nicht neu, das produzierende Gewerbe arbeitet so schon seit dem frühen 19. Jahrhundert, als Geschäftsprozesse im heutigen Sinne im Umfeld des transkontinentalen Eisenbahnbaus in den USA erfunden wurden. In Unternehmen wie Agenturen und Verlagen haben sich Arbeitsabläufe durch den Einzug digitaler Medien im Kern vielleicht dramatischer geändert als in anderen Industriesektoren, weil ihre Produkte digital sind. Was es vor allem bringt? Transparenz! Wer mal versucht hat, in einer kritischen Geschäftsbeziehung über Mails und anhängende Dokumente bestimmte Geschäftsvorfälle zu rekonstruieren, weiß was ich meine.

Heinold: Wie weit kann ein Verlag diese Standardisierung und Industrialisierung treiben?

Selle: Eigentlich sollte jeder, der etwas produziert, seine Produktionsprozesse kontrollierbar und damit transparent anlegen: Fehler im Ablauf müssen schnell diagnostiziert und abgestellt werden.

Die Arbeit mit Rechnern und digitalen Formaten steht in der Blüte ihrer Jugend – manche sagen nicht grundlos, dass wir alle nur mit Prototypen arbeiten – bei Hardware und bei Software. Standardisierungen versprechen aus dieser Situation ein wenig herauszukommen. Es ist ein verbreiteter Irrtum, dass bestimmte Normierungen Produkte verschlechtern. Das Gegenteil ist der Fall: Richtig eingesetzt hilft der Computer die doofen und lästigen Arbeiten zu verrichten und damit die Konzentration der Kollegen bei den Jobs aufrecht zu erhalten, die der Rechner nicht kann, den intellektuellen und kreativen.

Heinold: Geht den Lektoren nicht Freiheit und Kreativität verloren, wenn sie nur noch wie in einer regulierten „SAP-Welt“ arbeiten dürfen?

Selle: Wie schon in der vorigen Antwort gesagt: nein. Die beste Technologie ist die Hintergrundtechnologie. Die hilft, ohne wahrgenommen zu werden. Der Lichtschalter, die Hausklingel, das Auto vom Fahrersitz aus gesehen, das amerikanische Fernsehprogramm, all das sind Hintergrundtechnologien. Sie erfordern keine Aufmerksamkeit und lassen mich meine Geisteskräfte produktiv einsetzen. So sollten auch Rechner und Programme aussehen. Wenn ein Redaktionssystem dem Lektor oder der Lektorin eine Liste der aktuell zu bearbeitenden Texte übersichtlich mit Datum und Status anzeigt, wenn der Text dann geöffnet und mit genau den Werkzeugen bearbeitet werden kann, die im Lektorat benötigt werden, wenn dann die Software weiß, wer nach Abschluss der Arbeiten dran ist, dann ist das keine Regulierung, sondern Assistenz. Wenn die Software dann noch die Kommunikation zwischen Lektoren und Autoren verbessert, weil haufenweise Arbeitsschritte entfallen, Anrufe entfallen, Versionen entfallen, dann ist das schon mehr.

Heinold: Welche Rolle spielt die Arbeit mit strukturierten Daten und XML bei diesem Konzept?

Selle: Druckwerke sind nicht mehr die einzigen und bei einer Vielzahl von Verlagen in Zukunft nicht einmal mehr die wichtigsten Produkte. Bislang waren die digitalen Satzdokumente und die PDFs immer Ausgangspunkt für alle weiteren Produkte, denn die waren durch Lektorat und Herstellung gegangen und daher qualitätsgesichert. Das Ergebnis: etwa die Hälfte aller eBooks, die ich bislang gelesen habe, haben eine katastrophale Qualität, weil Layout-Elemente aus dem Druckwerk beim jetzigen Produktionsverfahren auf Basis der PDF-Dateien nicht auszumerzen sind. Trennstriche in Wörtern mitten in der Zeile, falsch erkannte Ligaturen, fehlende Buchstaben oder sinnlose Leerzeichen auf Grund von Kerning usw. trüben das Lesevergnügen nachhaltig! Der qualitätsgesicherte Rohstoff für die verschiedenen Produkte muss also vor der Druckdatei liegen: Imprimatur für die XML-Datei! heißt die Losung..

Außerdem spiegelt die Struktur dieser Daten die Semantik wieder, die Bedeutung eines Textabschnittes im Kontext. Ein Textsegment spielt im Gesamttext eine Rolle, Bildunterschrift ist eine Rolle, kein Format. Semantische Auszeichnungen klappen nur mit XML, vor allem bei der Ausrichtung auf verschiedene Ausgabekanäle: Schon jetzt werden alle Kanäle ausser Druck mit XML-formatierten Datenströmen versorgt.

Im Unterschied zu Word, InDesign oder PDF ist XML dazu noch ein ausgesprochen lesefreundliches Archivformat. Solange es Software gibt, die einfache Textdateien lesen können, habe ich mit XML-Daten nichts zu befürchten.

Heinold: Fachverlage denken und handeln ja schon länger so – aber geht das z.B. auch in einem Kinderbuchverlag?

Selle: Na ja, die meisten Fachverlage kochen auch nur mit Wasser. XML-basierte Abläufe werden über eine Serie mehr oder weniger brauchbarer Open-Source-Werkzeuge abgedeckt: Die Lernkurve ist hoch, einzelne Teilanwendungen müssen häufiger ersetzt werden, und damit muss der Ablauf korrigiert werden: es funktioniert, wackelt aber immer ein bisschen. Viel Arbeit muss in Fehlersuche und Korrekturen investiert werden, die nicht einmal die Texte, sondern die Integrität der XML-Daten. Hat ein Bearbeiter oder ein Prozess mein XML verletzt, kaputtgemacht? Wenn ja, wie kann ich die wichtigsten Fehler schnell finden und korrigieren? Diese Art der Qualitätskontrolle verschlingt viel Zeit.

Bei Kinderbuchverlagen ist schon einiges anders: Viele Bilder, unorthodoxe Buchformate und Inhalte, die noch weitergehend angeboten werden als die von Fach- oder Publikumsverlagen: Neben der Print- und der eBook-Ausgabe gibt es ein Hörbuch, ein Malbuch, einen Film, Musik und diverse andere Varianten. In solch einem Umfeld werden einheitliche Formate zum echten Problem, weil es jetzt nicht nur um Texte, sonder eigentlich auch um medienneutrale Bilder, Sound- und Movie-Formate geht, das vergrößert die Herausforderung.

Heinold: Und was heißt das ganz allgemein für die IT-Strategie eines Verlages?

Selle: Gott, wenn ich das so genau wüsste würde ich vermutlich selbst Verleger. Meine Firma mach Software, und wir wünschen uns vor allem von Interessenten und Kunden, dass es überhaupt eine Strategie gibt. Der ganze Prozess ist ja strukturell dem der Autoindustrie vergleichbar: Hundert Jahre hat man flotte Flitzer auf Otto-Motor-Basis gebaut und jetzt sollen es Elektro-Autos ein. Die Überlegungen sind ähnlich: Gibt es für die komplett verschiedenen Produkte Arbeitsabläufe, die trotzdem gleich bleiben? Ab wo trennen sich Entwicklungen? Wie kann ich die eigene Expertise möglichst gut in die neuen Produkte einbringen? Bietet das neue Geschäft möglicherweise Vorteile für das alte?

Wir haben für große Konzerne, für Unis und Behörden gearbeitet, und was für uns absehbar ist: XML geht nicht mehr weg. Die wichtigen Leute und Institutionen auf dieser Welt haben sich darauf geeinigt, das XML das Austausch- und Archivformat ist. XML ist wichtig an den Schnittstellen, weil man beweglich bleibt und Geld spart. Es hilft dabei, verschiedene Systeme zu integrieren und Inhalte lesbar und trotzdem strukturiert abzulegen. XML als Produkt- und Austausch-Format zu haben ist also in jedem Fall richtig, egal, ob sich Amazon oder ePub oder Apple durchsetzt. Wer noch olle Quark-Dateien gebunkert hat kann die Vorteile nachvollziehen. Nicht ePub ist das Ziel, nicht MobiPocket oder iPad, sondern XML als Content-Format. Das ist es eigentlich. Und das so früh wie möglich im Produktionsprozess … und möglichst lange.

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